PLATTEN-RELEASE
WILDNIS
Oleg Hollmann | Sebastian Deufel
Donnerstag | 23. Juni 2022 | 19 Uhr
Eine musikalische Studioproduktion lässt sich oftmals nur bedingt auf der Bühne umsetzen. Zum Erscheinen ihres Albums "Die Wildnis" (XJAZZ Music, 10.06.2022) verzichten die Berliner Musiker Oleg Hollmann und Sebastian Deufel deshalb auf ein klassisches Release-Konzert und laden stattdessen ins OQBO zu einem kollektiven Hören der ca. 40-minütigen Aufnahme ein.
Der Sound des Duos ist geprägt durch die Reduktion auf das Hauptinstrumentarium Bari-Sax/Drumset, entfaltet sich aber ebenso durch die Einbeziehung sämtlicher Ausdrucksmittel eines Tonstudios. Zwischen diesen Gegenpolen wird die schwere Klangmasse im Verlauf der sieben Tracks in Form gegossen. Einen metallischen Glanz fügt dabei die Kooperation mit der Multi-Instrumentalistin Ruth Schepers hinzu. Musikalische Kargheit ebenso wie der Kontext machen das Album zu einem politischen. Dazu die beiden Künstler:
Ein Wort zum Zeitbezug. Was es bedeutet, Musik in Krisenzeiten zu machen.
Es ist schwer, die Eindrücke und Gefühle des letzten halben Jahres auszusprechen, auszudrücken, zu Musik zu machen. Und doch wollen wir es – anfangs stockend – probieren. Wie ein Schluck Alkohol macht Ironie den Anfang leichter: Eine Floskel, vier Kick-Drum-Schläge. Heißt es nicht, die Musik sei dafür am besten geeignet, existenzielle Themen und stärkste Emotionen zu äußern, zu teilen? Auch die Musik kennt Momente, in denen sie lieber den Mund halten würde. Vor einigen Wochen las ich von einem ukrainischen Fotografen, der angesichts der Zerstörung seiner Stadt, keinen Drang verspürte, "die Kamera auf das Elend [zu] richten." Muss man als Profi, sich überwinden, den Krieg dokumentieren? Und was bleibt uns? Die Schockstarre abschütteln und über den Krieg sprechen, ihn in Töne setzen, ihn tanzen, um sich ihm nicht zu ergeben? Klingt etwas einfach und riecht nach Kitsch. Dieser Krieg, der hier in Berlin in einem Moment weit weg, im nächsten schmerzlich nah dran ist – er entzieht sich jeder Logik, jeder Ordnung.
Der Exzess, die Unordnung – das ist die Gewalt und die Stille danach, Kälte und Hitze, Hunger und Überfluss. Welchen Strom muss man in unserer Zeit hinauffahren, um diese Wildnis zu Gesicht zu bekommen? Es sind die Menschenströme der Flüchtenden, die digitalen Ströme des Informationskrieges und die Erdöl- und -gasströme an deren Ursprüngen die Zivilisationsordnung im Bombenhagel wie im Koordinatenursprung zusammenbricht. Dort kann sich die von Menschen seit langem gerodete und zubetonierte Wildnis, die doch gerade in uns selbst ihren sichersten Rückzugsort hat, die volle Kraft zur Schau stellen.
Als wir uns im Dezember ´21 im Kreuzberger Studio Wong treffen, ist der Krieg in der Ukraine in Vorbereitung. Andere würden sagen, er habe vor acht Jahren angefangen. Oder ist Krieg immer schon da, ja, der eigentliche Normalzustand des menschlichen Zusammenlebens? Wir sind jedenfalls in Berlin, in der Stille eines Tonstudios. Wir wollen Musik machen, sie aufnehmen. Zugleich wollen wir aber keine Grenze ziehen zwischen unserer Kunst und der Welt. Der Jazz taugt schlecht als Programmmusik. Ohnehin ist das "Programm", das Explizite oder die Absicht, nicht greifbar – zu zahlreich sind Beispiele, wo Musik als Folterinstrument und Aufputschdroge missbraucht wurde. Der Gegenpol dazu passt aber ebenfalls schlecht zu unserem Verständnis von Musik, und insbesondere von Jazz: Die Flucht in ein Universum der Konvention, der klaren Strukturen und der Kombinatorik – gut, auch das hat seine Berechtigung.
Wir wollen es also. Wir wollen der Welt, wie sie ist, ins Gesicht spielen, sie in unserer Musik haben. Auf "Wildnis" gibt es Songs und es gibt Chaos und Anarchie, es gibt abstrakten Zwang, sinnlose Freiheit, Härte, Melancholie, Sarkasmus. Ja, es ist insgesamt ein "dunkles" Album.
Oleg
Hollmann / Sebastian
Deufel / Mai 2022
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